„Unglaublich spannend und intensiv“

Ramona Bechauf sammelte als erste Paderborner Stadtschreiberin viele Eindrücke und Erfahrungen

Ein abfälliges „Paderboring“ aus dem Munde jüngerer Leute, die meinen, Paderborn sei der Heimatort gähnender Langeweile, hat sie hin und wieder auch zu hören bekommen. Doch das Lob für die Stadt überwog eindeutig. Ramona Bechauf hat als Paderborns erste Stadtschreiberin vier Monate lang, von April bis Ende Juli 2016, viele Bürger und Besucher der Stadt nach ihren Einschätzungen zu Paderborn befragt. Die aus Coburg stammende und im Bad Salzufler Ortsteil Sylbach aufgewachsene Studentin der Kulturwissenschaften, Jahrgang 1987, kannte die Stadt bereits als Studienort. Sie brachte Studien- und Weltstadterfahrungen aus der Seine-Metropole Paris mit an die Pader. Das symbolisch verliehene Stadtschreiberinnenamt hat Bechauf eine Vielzahl neuer Einblicke und Blicke auf Paderborn ermöglicht. Auch auf „Partyborn“ – die völlig andere Seite von „Paderboring“. Die Bilanz der Stadtschreiberin: „Es war eine tolle Zeit.“ Ein Stadtchronist des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr mit Schreibfeder und dicker Notizkladde unterwegs. Das Arbeitsgerät von heute ist das Smartphone. Ein kleines Notizbuch und einen Kugelschreiber hatte Ramona Bechauf gleichwohl immer dabei. Und wenn sie sich zu einem Interviewtermin verabredet hatte, kam häufig auch ein SD-Rekorder, ein digitales Aufnahmegerät, in die Handtasche.

Mit den Erlebnissen und Impressionen ihrer vielen Paderborn-Begegnungen „fütterte“ die Stadtschreiberin über die Homepage der Universität ein im Internet abrufbares Logbuch ihrer Erkundungen. „Unmittelbare Eindrücke“, oft mit mehreren Fotos illustriert, vertraute sie „kurz, knackig und spontan“ dem Netzwerk „Facebook“ an. Die Facebook-Einträge nutzte Bechauf auch, um auf die ausführlicheren Einträge in ihrem Blog zu verweisen. Schöner Nebeneffekt: Zahlreiche „Gefällt mir“-Botschaften als Resonanz von Lesern zeigten der Stadtschreiberin, dass ihre Arbeit auf reges Interesse stieß. Manchmal gab es mehrere Hundert „Klicks“ für einen neuen Eintrag. Besonders ihre Beobachtung beim Frühlingsfest, wo die Sängerin Frida Gold und das Publikum auf dem Rathausplatz einfach nicht zueinanderfinden wollten, löste über die im Netzwerk offerierte Kommentareunktion eine Menge Reaktionen aus.

Der Verein für Geschichte an der Universität Paderborn  hatte das Stadtschreiberprojekt als 1000-Euro-Stipendium ausgeschrieben und zur Finanzierung weitere Sponsoren, darunter Stadt, Geschäftsleute, Universität und den Verein „Paderborn überzeugt“, ins Boot geholt. Zum Paket der an das Amt gekoppelten Vergünstigungen zählten die Übernahme der Wohnungsmiete, eine Mensakarte für die Uni und ein Nahverkehrsticket für den „PaderSprinter“.

In der Zeitschrift „Paderborner Historische Mitteilungen“ des Vereins für Geschichte wird Ramona Bechauf bald ausführlich über ihre Erfahrungen als Stadtschreiberin berichten. Dort soll auch ein spezieller Gesichtspunkt ihrer Arbeit stärker beleuchtet werden: Migration als Aspekt der Kulturvermittlung in Paderborn. Die intensive Blog-Arbeit ließ dafür während des Stipendiums wenig Zeit.

„Sie haben ausnehmend schöne Texte geschrieben.“ So lautete das Kompliment, mit dem Dr. Michael Wittig, der Vorsitzende des VfG, am 6. Juli im Paderborner Rathaus nach einem öffentlichen Vortrag der Stadtschreiberin über die „facettenreiche Suche nach dem ,wahren Paderborn‘“ in ihren ersten drei Projektmonaten aufwartete.

Eine Erfahrung der Stadtschreiberin: „Man muss die Menschen in Paderborn nur ansprechen. Dann sind sie offen, ehrlich, nehmen sich Zeit.“ Sie habe viele Menschen kennengelernt, „vor allem auch kreative Köpfe, die mit der Stadt zu tun haben“. Sie tauchte ein in die Künstlerszene, entdeckte nette Kneipen und Cafés, fand kleine Geschäfte, die noch von ihren Inhabern geführt werden, probierte Wasserskifahren und andere Sportarten aus. Sie schaute sich auf dem Abendflohmarkt einer Studentengruppe in der Kulturwerkstatt um, lauschte einer deutsch-arabischen Führung im Diözesanmuseum und geriet in einem Paderborner Waschsalon ins Träumen.

Eine Anglistik-Studentin, die sich in Paderborn rasch einen Freundeskreis aufgebaut hat, schilderte der Stadtschreiberin, wie sie sich dabei ertappte, als sie gegen Ende eines Kurzbesuchs bei den Eltern in Oldenburg ankündigte: „Ich fahre wieder nach Hause.“ Das Ziel dieser Heimfahrt hieß Paderborn. Solche manchmal versteckten Liebeserklärungen an Paderborn hörte Bechauf bei ihren Erkundungen zur „Stadtwahrnehmung“ häufiger – von jungen wie älteren Gesprächspartnern. Sie erlebte allerdings auch, dass einige Paderbornkritische Äußerungen vor der Veröffentlichung im Blog wieder zurückgezogen wurden. Und manches Lob für Paderborn endete mit einem „Ja, aber …“. Aus dieser oft bemerkten „Verteidigungshaltung“ folgert Bechauf, dass Paderborn trotz intensiver Auseinandersetzung der Bürger mit ihrer Stadt und den innerhalb und außerhalb der Stadt kursierenden Paderborn-Vorurteilen „ein Imageproblem“ hat. Sie selbst hält es da lieber mit dem Poetry-Slammer Dean Ruddock, der notorischen Paderborn-Meckerern gern – nicht zynisch gemeint, sondern positiv gesehen – zu verstehen gibt: „Die Leute, die in Paderborn wohnen, haben es auch verdient, hier zu leben.“

In Bechaufs „Amtszeit“ als Stadtschreiberin fiel auch das Paderborner Schützenfest. Aber die Stadt hatte an dem Wochenende auch anderes zu bieten. Morgens staunte Bechauf in der Sportanlage im Goldgrund beim „19. BBQ Paderborner Skateboard & Freestyle Contest“, dass sich bei diesem Wettbewerb mittlerweile Spitzensportler der rollenden Bretter aus aller Welt ein Stelldichein geben. Für Kontrast sorgten am Nachmittag grüne Schützenuniformen. Bechauf plauderte mit einer Chinesin, die mit einem Paderborner verlobt ist und – wie die Stadtschreiberin – erstmals dem Treiben auf dem Schützenplatz zuschaute: „Wer von uns beiden mehr Fotos gemacht hat, kann ich nicht mit Sicherheit sagen“, hielt Bechauf in ihrem Blog fest. Und auch diese Erkenntnis: Das traditionelle Fest mit seinen Bräuchen passe sich an die gesellschaftliche Realität an, verändere sich „mit den Paderbornern zusammen“.

Dann stand Libori vor der Tür. Die Stadtschreiberin erlebte als „NichtKatholikin“ die feierliche Aussetzung des Liborischreins im Dom, um kurz darauf im Paderquellgebiet auf einen Pulk von Pokémon-Trainern zu treffen, die nichts mit Libori im Sinn hatten, sondern an den Quellen der Pader nach kleinen digitalen Monstern fahndeten. Ein „Tag voller Gegensätze“, notierte Ramona Bechauf in ihrem Blogeintrag.

Ein mit der Stadtschreiberin befreundeter Franzose reist jedes Jahr aus Clermont-Ferrand zum Liborifest an. Für ihn gibt es kein schöneres Kirmeserlebnis als die „petites chevaux“, die kleinen Pferde, die sich im Schaustellergeschäft „Kentucky Derby“ ein Rennen nach dem anderen liefern. Ein anderer Franzose, ein junger Mann mit spanischen Wurzeln, mit dem Bechauf durch die Stadt schlenderte, stimmte für die Stadtschreiberin in der für ihre einzigartige Akustik gelobten Bartholomäuskapelle Edith Piafs großes Chanson „La vie en rose“ an – auf Spanisch.

Den „Großen Libori-Schein“ zu machen, den eine lustige Studentengruppe ausgeheckt hatte, war für die Stadtschreiberin kein Problem: Dafür muss man an mindestens acht der neun Liboriabende das Fest besuchen. Ab fünf Besuchen darf man sich Inhaber des „Kleinen Libori- Scheins“ nennen.

An die 50 Blogeinträge hat sie verfasst. Libori war die arbeitsreichste Zeit der Stadtschreiberin. Aber Ramona Bechauf schätzt auch „viele andere Momente“, die ihr zu einem „unglaublich spannenden und intensiven Erleben“ Paderborns verholfen haben. Nach Abschluss ihres Masterstudiums in der Fachrichtung „Kulturerbe“ wird die Stadtschreiberin Paderborn vorerst treu bleiben. Hier möchte sie promovieren. Berufswunsch der kommunikationsfreudigen Kulturwissenschaftlerin ist es, Museumskuratorin zu werden.

Die Veränderung der Wahrnehmung ihrer Stadt fange bei den Paderbornern selbst an, sagt Ramona Bechauf. Sie hofft: „Vielleicht wird es dann möglich, dass sich die Menschen hier ohne ,aber‘ zu ihrer Stadt bekennen und einmal stolz sagen können: ,Ich bin ein Paderborner. Und das ist auch gut so.‘" 2017 soll erneut ein Stadtschreiber unvoreingenommen seinen Blick auf Paderborn richten. Der Verein für Geschichte hat das neue Stipendium bereits ausgeschrieben. Bis Ende Januar können sich interessierte Nachwuchswissenschaftler aus den Bereichen Geschichte und Kunstgeschichte bewerben. Ramona Bechauf: „Vielleicht ist der Internet-Blog ja eine Plattform, auf der mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin weiterarbeiten können.“

Der Paderborner Buchhändler Antonius Linnemann hatte sich bei der ersten Begegnung mit Ramona Bechauf höchst überrascht gezeigt. Er habe sich einen Stadtschreiber immer als alten Mann mit weißen Haaren und langem Bart vorgestellt, lachte er verschmitzt, „aber keine Frau im Sommerkleid“.

Quelle:  die warte; 76. Jahrgang / Nr. 172 Weihnachten
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Die Stadtschreiberin
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